Währungsunion, Kapitalmarktunion, Bankenunion – ein Dreiklang für Europas Wohlstand und Resilienz Rede beim 23. Deutschen Bankentag

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Begrüßung

Sehr geehrter Herr Sewing, 
meine sehr verehrten Damen und Herren, 

herzlichen Dank für die Einladung zum 23. Deutschen Bankentag. Gegen Ende eines so vielfältigen Konferenzprogramms muss man womöglich etwas weiter ausholen, um noch etwas Neues zu sagen. Diese Herausforderung nehme ich gerne an! 

Beginnen wir also nicht hier und heute, sondern vor 200 Jahren in Wien. Ludwig van Beethoven leitete die Uraufführung seiner 9. Sinfonie. Fast ein Jahrzehnt hatte der Komponist an dem Werk gearbeitet. Und das unter denkbar schwierigen Umständen: Beethoven konnte kaum noch hören. Dennoch gelang es ihm, die Sinfonie zu vollenden. Was für ein Erfolg! 

Die Vertonung von Schillers Ode an die Freude aus dem letzten Satz ist heute die Europahymne. Wenn sie erklingt, schwingt dabei zweierlei mit: Die europäischen Werte vom Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Verbundenheit sowie die Erkenntnis, was gelingen kann, wenn man den festen Willen hat, Widrigkeiten zu überwinden.

Wenn von der EU die Rede ist, kommt Musikbegeisterten aber vielleicht eher Franz Schuberts 7. Sinfonie in den Sinn. Von ihr sind zwei beeindruckend schöne Sätze fertig. Der dritte Satz ist ein Fragment geblieben, einen vierten gibt es nicht. Sie wird auch „die Unvollendete“ genannt.

Vielen gilt die Europäische Union bis heute als nicht vollendet. Und das betrifft auch die wirtschaftliche Integration, obwohl der gemeinsame Markt einer der Triebfedern der europäischen Einigung war. Müssen wir uns hier mit einem unvollendeten Werk abfinden? Oder können wir uns der Vollendung von Beethovens Neunter annähern? 

In meiner Rede möchte ich dies für drei Bereiche diskutieren: die Kapitalmarktunion, die Bankenunion und die Währungsunion.

2 Kapitalmarktunion

In einem Zeitungskommentar hieß es vor einigen Wochen: Die Vollendung der Kapitalmarktunion zähle längst zu den Sprechblasen, die auf Worthülsen-Listen landeten und den Spott des Publikums auf sich zögen. 

Ich kann den Unmut über den langsamen Fortschritt verstehen. Denn es stimmt: Die Kapitalmarktunion wird seit langem gefordert. Umfassend realisiert wurde sie bisher nicht. Die Kapitalmärkte in Europa sind weit davon entfernt, vollständig integriert zu sein. 

Woran liegt das? Ein Grund ist die vielschichtige Materie. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die uns einen gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt beschert. Nötig wäre ein ganzes Bündel an Maßnahmen, die zum Teil tief in nationales Recht eingreifen würden. Es reicht von den Insolvenzregeln für Unternehmen über das Steuerrecht bis hin zu den Grundsätzen der Rechnungslegung. Bisher ist es vielfach nicht gelungen, die hierfür erforderlichen politischen Einigungen zu erzielen. Es würde sich aber lohnen, denn die Chancen sind groß! 

Ein tiefer, liquider Kapitalmarkt erleichtert es, privates Kapital zu mobilisieren. Und das benötigen wir in großem Umfang, um die ökologische und digitale Transformation der europäischen Wirtschaft zu forcieren. Die Europäische Kommission schätzt den zusätzlichen Investitionsbedarf auf über 745 Milliarden Euro – pro Jahr wohlgemerkt.[1] Der Löwenanteil wird von den Privaten zu stemmen sein. 

Hinzu kommt: Ein integrierter Kapitalmarkt unterstützt die einheitliche Geldpolitik im Euroraum. Denn er hilft dabei, dass die geldpolitischen Impulse gleichmäßig im gesamten Währungsraum wirken. 

Und bei einem wirtschaftlichen Schock in einem Mitgliedstaat werden Folgekosten über das gesamte Währungsgebiet hinweg abgefedert. Insofern trägt eine umfassendere private Risikoteilung auch zur Finanzstabilität bei.

All diese Chancen sollten wir uns nicht länger entgehen lassen. Es gilt, die Schlagbäume auf dem europäischen Kapitalmarkt endlich abzubauen. 

Unternehmen müssen sich leichter über Ländergrenzen hinweg finanzieren können, vor allem auch mit Eigenkapital.[2] Dies würde auch Start-ups und kleinen Unternehmen den Zugang zu Wagniskapital erleichtern. Gerade hier ist der Abstand zu den USA immens: 2020 wurde in den USA zwanzigmal mehr Venture Capital investiert als im Euroraum.[3] 

Aber auch Banken können von der Kapitalmarktunion profitieren. So ermöglicht ein transparenter und qualitativ hochwertiger Verbriefungsmarkt, dass Banken Teile ihres Kreditportfolios an den Kapitalmarkt abgeben. Das entlastet ihre Bilanzen und schafft Raum für zusätzliche Kredite, etwa um die Transformation zu finanzieren. Sowohl die Eurogruppe als auch der EZB-Rat haben sich im März dafür ausgesprochen, die Entwicklung des Verbriefungsmarktes in den Blick zu nehmen.[4] 

Und gerade zum Ende der laufenden Legislaturperiode des EU-Parlaments sind einige Maßnahmen des Aktionsplans 2020 umgesetzt worden. So wurde zum Beispiel die Einrichtung eines European Single Access Point beschlossen. Die Plattform wird Investoren den Zugang zu Informationen erleichtern, um passende Unternehmen und Projekte zu finden. 

Dies mögen nur kleine Schritte hin zu einem gemeinsamen Kapitalmarkt sein. Aber auch viele kleine Schritte führen zum Ziel, wenn sie tatsächlich gegangen werden. 

In der vergangenen Woche haben sich die 27 EU-Staats- und Regierungschefs zum Thema Kapitalmarktunion ausgetauscht. Der Bundeskanzler und der französische Präsident haben beide die Bedeutung dieses Themas betont. Nach der Europawahl im Juni sollte es ganz oben auf der EU-Agenda stehen. Klar ist: Lippenbekenntnisse reichen nicht. Für echten Fortschritt müssen alle an einem Strang ziehen, also Kommission, Parlament und die Mitgliedstaaten. Mit anderen Worten: Alle im europäischen Orchester müssen mitspielen. 

3 Bankenunion

Das gilt auch für ein Vorankommen bei der Bankenunion. Hier ist immerhin ein großer Teil der Arbeit bereits getan. Zwei von drei Säulen stehen: die gemeinsame Aufsicht und der gemeinsame Abwicklungsmechanismus. Sie entstanden aus den Lehren der Finanzkrise und sind heute wichtige Stützen der Finanzstabilität. 

An der dritten Säule wird schon eine ganze Weile gearbeitet. Ich spreche von einer gemeinsamen europäischen Einlagensicherung (EDIS). 

Sie könnte Auswirkungen möglicher nationaler Bankenkrisen auf europäischer Ebene auffangen, die eine rein nationale Einlagensicherung überfordern würden. So ließe sich das Vertrauen der Bankkunden in den Einlegerschutz stärken und damit das Risiko eines „bank run“ senken. Zudem würden die Staaten entlastet: Sie müssten seltener einspringen, um mit Stützungsmaßnahmen die heimische Finanzstabilität zu sichern. Der Euroraum könnte insgesamt widerstandsfähiger werden, was auch zur Finanzstabilität in Deutschland beitragen würde. 

Im Rahmen von EDIS geht es letztlich darum, bestimmte Risiken innerhalb der EU gemeinsam zu schultern. Deshalb ist es wichtig, dass die Risiken, die auf Ebene der einzelnen Mitgliedsländer beeinflusst werden können, adäquat begrenzt werden. Das betrifft insbesondere staatliche Solvenzrisiken.[5] 

Für Staatsanleihen gelten derzeit weder die üblichen Eigenkapitalanforderungen noch Großkreditgrenzen. Der Abbau dieser regulatorischen Privilegien für staatliche Verbindlichkeiten in den Bankbilanzen wäre die beste Lösung. Sie ist aber auf absehbare Zeit politisch nicht durchsetzbar.

Können wir bei der Bankenunion dennoch vorankommen? Ich halte das durchaus für möglich. 

Auf der Suche nach einem Kompromiss könnte man etwa prüfen, die Menge an Staatsanleihen in Bankbilanzen über Konzentrationslimite zu begrenzen. Eine klare Obergrenze in Bankbilanzen wäre technisch relativ einfach umzusetzen. Denkbar wären auch Konzentrationszuschläge, die dann anfielen, wenn die Menge an Anleihen bezogen auf einen Staat bei einer Bank bestimmte Schwellenwerte überschreitet. Wichtig ist, dass damit die Risiken signifikant reduziert werden.

Darüber hinaus käme es auf die konkrete Ausgestaltung von EDIS an. Hier sind verschiedene Optionen denkbar: von einem dezentralen Modell, über ein hybrides, teilweise zentralisiertes Modell, bis hin zu einem gänzlich zentralisierten Modell. 

Ich kann mir zum Beispiel ein hybrides Modell gut vorstellen. Dabei gäbe es weiterhin nationale Einlagensicherungssysteme. Sie würden aber auf europäischer Ebene ergänzt. Der europäische Teil könnte zum Beispiel unterstützen, wenn die nationalen Mittel aufgebraucht sind. 

Ein hybrides Modell hätte gegenüber einem zentralisierten, rein europäischen Modell mehrere Vorteile: Zum einen ließe sich die Autonomie der Verbünde und ihrer Sicherheitseinrichtungen besser sicherstellen. Zum anderen bliebe die nationale Ebene weiterhin direkt in der Verantwortung. Schließlich haben die einzelnen Staaten weiterhin Einfluss auf die Gesundheit ihrer Banken.

Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass sich eine Lösung finden lässt, die das Vertrauen in den Einlegerschutz stärkt, ohne Fehlanreize zu schaffen. Der Vorschlag des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europäischen Parlaments ist ein guter und wichtiger Schritt. Ich finde darin viele wertvolle Ideen, nicht zuletzt die Stärkung der Einlagensicherung.

Zunächst steht aber die Überarbeitung des „Crisis Management and Deposit Insurance“-Rahmenwerks im Fokus. Wie wichtig ein effektives Rahmenwerk zum Krisenmanagement ist, haben die jüngsten Bankenkrisen in den USA und der Schweiz wieder gezeigt. Entlang der Vorschläge der Eurogruppe sollte der bestehende EU-Rahmen gestärkt und verbessert werden. Dies würde den Weg für politische Verhandlungen zu EDIS ebnen. 

4 Währungsunion

Für die Vollendung der Bankenunion liegt sicherlich noch viel Arbeit vor uns. Vielleicht muss man sich dabei von einer Erwartung lösen: Nämlich der, man könne Integrationsvorhaben in der EU einmal abschließen und müsse dann nie wieder Hand daran anlegen. Anders als Sinfonien sind sie keine statischen Werke, die unverändert die Zeit überdauern. Die Realität stellt sie auf die Probe, wir lernen dazu und entwickeln sie weiter. 

Ein Beispiel: Mit der Einführung des Euro vor 25 Jahren feierte die Währungsunion ihre Premiere. Seitdem sind wir gemeinsam durch viele Krisen gegangen. Und wir haben Lehren daraus gezogen. Denken Sie etwa an die zahlreichen Reformen nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Sie haben dazu beigetragen, die Währungsunion stabiler zu machen.

Zuletzt forderte uns die viel zu hohe Inflation heraus. Der EZB-Rat hat darauf entschlossen reagiert, u. a. mit zehn Zinserhöhungen in Folge. Unsere straffe Geldpolitik trägt Früchte. Es ist uns gelungen, die Inflation einzudämmen. Im März lag die Inflationsrate im Euroraum bei 2,4 %. Preisstabilität ist in Sichtweite. Jetzt gilt es, das letzte Stück des Weges abzusichern.

In ihrer jüngsten Prognose rechnen die Fachleute der EZB mit einem Erreichen des 2 %-Ziels Mitte 2025. Allerdings sind die Preisaussichten weiterhin unsicher. So könnte das Lohnwachstum langsamer zurückgehen oder sich die Produktivität weniger stark erholen als in der Prognose angenommen. 

Wir haben daher die Leitzinsen im April erneut konstant gehalten. Vor einer Zinssenkung müssen wir auf Basis der Daten davon überzeugt sein, dass die Inflation tatsächlich zeitnah und anhaltend unser Ziel erreichen wird. Dies hängt wesentlich von der Entwicklung von Löhnen, Produktivität und Gewinnmargen ab. Sollte sich der günstige Inflationsausblick vom März in der Juni-Prognose bestätigen und die eingehenden Daten dieses Prognosebild untermauern, können wir eine Zinssenkung ins Auge fassen. 

5 Schluss

Meine Damen und Herren, 

Beethoven konnte trotz seines Gehörverlustes noch komponieren, weil er sich Töne vorstellen konnte. So viel Vorstellungskraft wünsche ich mir auch, wenn wir über Europas Zukunft nachdenken. 

Währungs-, Kapitalmarkt- und Bankenunion ergänzen sich und stärken den europäischen Binnenmarkt. Hier nach Vollendung zu streben, lohnt sich! Der Binnenmarkt ist nicht nur ein Wohlstandsmotor. Er ermöglicht uns auch, aus einer Position der Stärke für unsere europäischen Werte und Interessen einzutreten. 

Dies wird immer wichtiger in einer sich wandelnden Welt. Eine Welt, die unruhiger und konfliktreicher geworden ist und womöglich auf eine multipolare Ordnung zusteuert. Europa ist die Chance, dass wir unsere Zukunft auch in einer solchen Welt selbst bestimmen können. Diese Chance sollten wir ergreifen!

Fußnoten:

  1. European Commission (2023), 2023 Strategic Foresight Report – Sustainability and people’s wellbeing at the heart of Europe’s Open Strategic Autonomy. Hierbei ist der Vergleichsmaßstab zu beachten: Es handelt sich um zusätzliche Investitionen im Vergleich zum Status quo. Zum Teil treten die zusätzlichen Investitionen an die Stelle von ohnehin anstehenden Investitionen, die dadurch obsolet werden. Zudem können die zusätzlichen Investitionen auch zu später entlastenden Einsparungen führen.
  2. Deutsche Bundesbank, Entwicklung der Unternehmensfinanzierung im Euroraum seit der Finanz- und Wirtschaftskrise, Monatsbericht, Januar 2018.
  3. European Central Bank, Financial Integration and Structure in the Euro Area, Box 1 Making euro area equity markets fit for green and digital innovation, April 2022.
  4. Eurogroup, Statement of the Eurogroup in inclusive format on the future of Capital Markets Union, 11. März 2024; European Central Bank, Statement by the ECB Governing Council on advancing the Capital Markets Union, 7. März 2024.
  5. Viele Banken in Europa halten noch immer große Bestände an heimischen Staatsanleihen. Vgl. Deutsche Bundesbank, Staatsschulden im Euroraum: Aktuelles zur Entwicklung der Gläubigerstruktur, Monatsbericht, April 2024.