Europa und sein Euro – Fit für die Zukunft? Festvortrag anlässlich der Verleihung der Heinrich-Hertz-Gastprofessur

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende,

es ist mir eine große Ehre, mit der diesjährigen Heinrich Hertz-Gastprofessur bedacht zu werden. 

Ich danke dem KIT und dem KIT Freundeskreis und Fördergesellschaft e. V. dafür sehr, und Ihnen allen, dass Sie heute zu diesem Festvortrag erschienen sind. 

Die Ehre ist schon deshalb groß, weil die Liste der Personen und Themen beeindruckend ist, die bisher mit der Heinrich Hertz-Gastprofessur ausgezeichnet worden sind. 

Vorneweg: Möglicherweise bin ich in der Liste der erste und einzige waschechte Karlsruher. Ich stamme aus Karlsruhe, ich bin hier aufgewachsen. Die Karlsruher Hochschule ist meine Alma Mater, ich habe hier studiert und im Mittelbau gearbeitet. Und ich bin Karlsruhe sehr verbunden. 

Sie können sich also vorstellen, was mir diese Auszeichnung bedeutet. 

Dann: Viele der Geehrten kamen aus Naturwissenschaft und Technologie. Als Chef einer Institution, die im Rang einer obersten Bundesbehörde steht, bin ich da eher der Exot. 

Wobei ich nicht der erste Bundesbankpräsident bin, der die Auszeichnung erhält: Helmut Schlesinger erhielt sie vor genau 30 Jahren. 

In meinem heutigen Festvortrag möchte ich – gewissermaßen im Big Picture – Europa und seine Währungsunion in den Mittelpunkt stellen und fragen: Ist der Euro „fit für die Zukunft“? 

Meinen Vortrag heute habe ich in vier Teile geteilt: 

  1. Wo stehen wir nach 25 Jahren Euro?
  2. Was war die historische Mission der Währungsunion?
  3. Welche institutionellen Reformen im Euroraum gab es, welche stehen aus?
  4. Und welche Herausforderungen stehen Europa und dem Euro bevor?

Glücklicherweise ist Karlsruhe für solche Vorhaben ein gutes Pflaster. 

Heinrich Hertz schrieb nach Antritt seiner Professur 1885 hier in Karlsruhe dankbar an seine Eltern: Mir geht es gut, doch habe ich einstweilen noch recht viel zu tun. … Gestern habe ich wenigstens eine Unbehaglichkeit abgeschüttelt: die Antrittsrede (‚Über den Energiehaushalt der Erde‘). Das Professorenkollegium war ziemlich vollständig da. … Mein Vortrag befriedigte mich durchaus nicht, er war nach meinem Gefühl arg missglückt. Wenn ich trotzdem nur Freundliches zu hören bekam, so zeigt das die Genügsamkeit der Zuhörer.

Liebe Karlsruherinnen, liebe Karlsruher: Im Wissen um Ihren Fachverstand zähle ich heute lieber auf Ihr Wohlwollen! 

2 Wo stehen wir nach 25 Jahren Euro?

Die Einführung des Euro ist nun fast ein Vierteljahrhundert her. Ein guter Zeitpunkt, zurückzublicken auf 25 Jahre gemeinsame Währung. Und daran zu erinnern, dass die Schaffung einer Währungsunion gerade in der Ökonomie mit großer Skepsis gesehen wurde.

Der Euro kommt zu früh lautete ein Manifest, das im Februar 1998 von 155 deutschen Professorinnen und Professoren unterzeichnet wurde. Doch nicht nur in Deutschland gab es warnende Stimmen. Nobelpreisträger Milton Friedman sagte zum Beispiel: Ich prophezeie, der Euro wird bald nach seiner Einführung wieder auseinanderbrechen. 

Diese Prophezeiung erwies sich zwar als falsch. Einige der Probleme, die Friedman und andere vorhersagten, sollten jedoch tatsächlich eintreten. Erst einmal lief aber alles glatt mit dem Euro.

Drei Jahre nachdem der Euro als Buchgeldwährung eingeführt wurde, kam er auch als Bargeld in den Umlauf. Und damit so richtig im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger an.

Sie erinnern sich vielleicht noch an die kleinen Plastikbeutel, die sogenannten Starterkits. Hierzulande waren Münzen im Wert von 10,23 Euro drin, das entsprach 20 D-Mark. Zuvor wurde mit prominenter Unterstützung für eine frühzeitige Rückgabe der D-Mark-Bestände geworben.

Die Begeisterung für die neuen Scheine und Münzen ebbte indes schnell ab. Denn nach der Umstellung hatten viele das Gefühl, der Euro sei in Wahrheit ein „Teuro“. Statistisch nachweisbar war ein solcher Effekt allerdings nicht. 

Auf lange Sicht betrachtet erwies sich der Euro ohnehin als stabile Währung. Das Schaubild zeigt, wie sich die Inflationsrate im Euroraum seit 1999 entwickelt hat. In den Anfangsjahren lagen die Inflationsraten zwar meist oberhalb von 2 Prozent, aber nur geringfügig.

Das spricht für den Erfolg der nationalen Zentralbanken des Euroraums und der Europäischen Zentralbank, die zusammen das Eurosystem bilden. Es konnte glaubwürdig vermitteln, dass es eine stabilitätsorientierte Geldpolitik betreiben wird.

Dabei hatte es freilich auch das Glück, in der Great Moderation zu starten. So bezeichnete man die damalige Phase, in der das Wirtschaftsgeschehen weltweit in vergleichsweise ruhigen Bahnen verlief – also mit ordentlichem Wachstum, verhaltener Inflation und moderaten Konjunkturschwankungen.

Innerhalb des Euroraums setzte sich in dieser Zeit der Konvergenzprozess fort: Die Volkswirtschaften wuchsen enger zusammen. Die Finanzierungsbedingungen in den Mitgliedstaaten glichen sich an. Insbesondere bei Finanzgeschäften zwischen Banken spielte es keine Rolle mehr, in welchem Euro-Land eine Bank ihren Sitz hatte.

Auch auf den Staatsanleihemärkten glichen sich die Renditen an. So konnte Griechenland, obwohl damals schon hochverschuldet, zu annähernd gleichen Konditionen Kredit aufnehmen wie Deutschland.

Im Nachhinein wird diese „Schönwetterphase“ mitunter auch als „Euro-Honeymoon“ bezeichnet.

Die Flitterwochen endeten abrupt, als die Krise am US-Immobilienmarkt im Sommer 2007 auch die europäischen Finanzmärkte erfasste. Denn es zeigte sich, dass auch europäische Banken über immer gewagtere Verbriefungen in die berühmt-berüchtigten Subprime-Kredite investiert hatten. 

Das sind überdurchschnittlich riskante Immobilienkredite an Privatleute. Als dann die Immobilienpreisblase platzte, fielen diese Kredite reihenweise aus. Die auf ihnen errichteten Verbriefungen fielen wie ein Kartenhaus zusammen, was riesige Löcher in die Bankbilanzen riss. 

Die Subprime-Krise weitete sich zur globalen Finanzkrise aus und erreichte im Herbst 2008 ihren Höhepunkt. Damals brach die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Erklärung, die Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück abgaben. Übrigens genau heute vor 15 Jahren. 

Die Inflationsrate im Euroraum war bis zum Sommer des Jahres 2008 auf 4 Prozent gestiegen. Doch im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise fiel sie erstmals unter null.

Von den Ländern des Euroraums erholten sich einige recht schnell von der Krise: zum Beispiel Deutschland. Andere Länder erholten sich dagegen deutlich langsamer. Und die Finanzmärkte schauten nun sehr viel kritischer auf strukturelle Schwächen dieser Länder, etwa im Bankensystem oder bei der Staatsverschuldung. 

Die Risikoaufschläge für die Staatsanleihen dieser Länder waren bereits während der Finanzkrise angestiegen und stiegen nun kräftig weiter. Das machte es für die betroffenen Staaten immer teurer und schwieriger, auslaufende Staatsanleihen zu ersetzen.

Allen voran Griechenland, aber auch Irland, Portugal, Spanien und Zypern bekamen – aus unterschiedlichen Gründen – massive Finanzprobleme. Die Staatsschuldenkrise im Euroraum stellte zeitweilig sogar den Fortbestand der Währungsunion in Frage.

Nicht zuletzt durch Mario Draghis Ankündigung im Sommer 2012, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten, konnten die Märkte beruhigt werden. Diese Krise zu überwinden, gelang letztlich aber nur durch einen gemeinsamen Kraftakt der Mitgliedstaaten, des Eurosystems und des Internationalen Währungsfonds. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es vor allem die Menschen in den Krisenländern waren, die die unvermeidlichen Anpassungsmaßnahmen zu stemmen hatten.

Der Schuldenkrise im Euroraum folgten von 2013 an mehrere Jahre außergewöhnlich niedriger Inflation. Zeitweilig sank die Inflationsrate sogar erneut in den negativen Bereich. 

Was für Verbraucherinnen und Verbraucher auf den ersten Blick von Vorteil ist, ist aus geldpolitischer Sicht durchaus problematisch. Denn sehr niedrige oder negative Inflationsraten können in eine gefährliche Abwärtsspirale münden. Und während eine Zentralbank zu hohe Inflation bekämpfen kann, indem sie die Zinsen kräftig erhöht, ist zu niedrige Inflation schwieriger. Wenn die Inflationsrate niedriger als erwünscht ist, kann die Zentralbank die Zinsen nicht beliebig weit senken, damit die Inflationsrate wieder zum Zielwert hin steigt. 

Der EZB-Rat senkte den derzeit relevanten Leitzins – den Satz der Einlagefazilität – zwischen 2008 und 2019 von über 3 Prozent bis auf minus 0,5 Prozent. Viel tiefer lassen sich die Leitzinsen jedoch nicht senken. Denn wenn die Zinsen deutlich in den negativen Bereich gesenkt werden, wird es günstiger, das Geld vom Konto in Bargeld umzutauschen. 

Da die Inflationsrate im Euroraum aber immer noch unter dem Zielwert von 2 Prozent lag, waren weitere geldpolitische Maßnahmen erforderlich: Eine bestand darin, deutlich zu kommunizieren, dass für längere Zeit nicht mit höheren Zinsen zu rechnen sei. Eine zweite, in großem Stil Anleihen zu kaufen, um damit auch die langfristigen Zinsen zu senken.

Das Eurosystem erwarb zwischen 2009 und 2019 Anleihen im Wert von über 2.500 Milliarden Euro. Die Geldpolitik war mithin schon sehr expansiv ausgerichtet, als im März 2020 mit der Corona-Pandemie eine weitere Krise hinzukam.

Der EZB-Rat antwortete darauf mit „PEPP“, dem Pandemie-Notfallankaufprogramm. Mit zusätzlichen großvolumigen Anleihekäufen wollte er verhindern, dass die Pandemie die Preisstabilität gefährdet. 

Tatsächlich sank die Inflationsrate noch einmal knapp unter null. Dann, ab dem Jahr 2021, zogen die Preise kräftig an. Übrigens nicht nur im Euroraum, sondern weltweit.

Auslöser waren eine unerwartet rasche Erholung der Weltwirtschaft nach dem pandemiebedingten Einbruch. Die hohe aufgestaute Nachfrage, die durch die Geld- und Fiskalpolitik zusätzlich befeuert wurde, traf auf ein begrenztes Angebot an Waren und Dienstleistungen. 

Der Preisanstieg begann also schon vor dem furchtbaren Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die daraus folgende Energie- und Nahrungsmittelkrise beschleunigte jedoch den Preisanstieg merklich. Die Preise zogen so kräftig an, dass die Inflationsrate im Euroraum im Herbst 2022 erstmals zweistellige Werte erreichte.

Schon bei meinem Amtsantritt im Januar 2022 war mir klar, dass die Geldpolitik handeln musste. Abwarten und zuschauen war jedenfalls keine Option. Und tatsächlich hat der EZB-Rat entschlossen gehandelt, um zu verhindern, dass sich die hohe Inflation verfestigt.

Wir haben die Nettokäufe in den Ankaufsprogrammen beendet und die Leitzinsen kräftig angehoben: seit Juli 2022 um 4 ½ Prozentpunkte, so stark und zügig wie nie zuvor im Euroraum.

Mittlerweile sinkt die Inflation zwar wieder, besiegt ist das „gierige Biest“ aber noch nicht. Beunruhigend ist die weiterhin sehr hohe Kernrate, bei der die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelpreise herausgerechnet werden. Sie gibt ein aufschlussreiches Bild über den zugrundeliegenden Inflationstrend, und der ist offensichtlich noch nicht gebrochen.

Wir im EZB-Rat müssen unseren restriktiven Kurs fortsetzen, bis sichergestellt ist, dass die Inflation wieder zu unserem mittelfristigen Zielwert von 2 Prozent zurückkehrt.

Blicken wir auf die vergangenen 25 Jahre zurück, dann kann sich die Bilanz der europäischen Geldpolitik gleichwohl sehen lassen: Im Mittel über die gesamte Zeit liegt die Inflationsrate im Euroraum bei 2,1 Prozent. Auf lange Sicht hat sich der Euro mithin, wie versprochen, als stabile Währung erwiesen. 

Von dieser Warte aus betrachtet, kann der Euro als Erfolgsstory angesehen werden. Doch wie steht es mit den ursprünglichen politischen Zielen, die mit der Schaffung der Währungsunion verbunden waren? Hat der Euro die politische Integration Europas vorangebracht? Oder hat er mehr als Spaltpilz gewirkt?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es sinnvoll sich zu vergegenwärtigen, wie Europa seine gemeinsame Währung bekam. Dazu brauchen wir eine größere Flughöhe. 

3 Die historische Mission der Währungsunion

3.1 Politisch-historischer Rahmen

Von der Amselperspektive der Tagespolitik zur Adlerperspektive der Zeitgeschichte sozusagen. Von dort oben können wir 25 Jahre Euro im Kontext von 75 Jahren europäischer Integration erfassen. 

Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion war als europapolitisches Friedensprojekt geplant. 

Welche Faktoren bestimmten die Politik der europäischen Integration? Die historischen Kriegserfahrungen und der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus. 

Den Kern der europäischen Integration bildete die Überwindung des historischen Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich, der „deutsch-französischen Erbfeindschaft“. Die Geopolitik dagegen war vom heraufziehenden Kalten Krieg, dem Ost-West-Gegensatz bestimmt. 

In dieser Weltordnung arbeitete man seit 1950 an der europäischen Integration, und in deren Kernbereich im Weiteren an einer gemeinsamen Währung. Es ging mithin um die wirtschaftliche Integration Westeuropas – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges.

Als der Euro schließlich kam, war der Ostblock jedoch bereits passé. War der Euro also die Antwort auf eine Frage, die sich gar nicht mehr stellte? 

Mag sein. Und doch können wir heute froh sein, dass wir den Euro haben. Denn ich bin persönlich fest überzeugt: Ohne den Euro hätten wir die erwähnten Krisen der vergangenen Jahre weit schlechter gemeistert. Dank Euro sind uns heftige Turbulenzen an den Devisenmärkten erspart geblieben. 

3.2 Eine Währungsunion als europäisches Friedensprojekt

Die europäische Integration, die uns letztlich zur Währungsunion geführt hat, begann mitten im Kalten Krieg. Sie war als strategische Friedenspolitik angelegt, die über eine Wirtschaftsintegration verwirklicht werden sollte:

Je enger und tiefer Länder wirtschaftlich verknüpft sind, umso weniger können sie Kriege gegeneinander vorbereiten und führen. Das war eine Einsicht aus der Erfahrung zweier Weltkriege.

In vielen Bereichen der Wirtschaftspolitik schritt die Integration daher rasch voran: Rohstoffe, Industrie, Landwirtschaft und Handel.

Schon seit Anfang der 1960er Jahre gab es deshalb ernsthafte Vorschläge, in diesem gemeinsamen Europa auch zu einer Währungsunion zu kommen. 

Zunächst gab die Währungsordnung von Bretton Woods den Rahmen vor: ein System fester Wechselkurse mit dem US-Dollar als globaler Leitwährung. Als sich aber das Ende von Bretton Woods abzeichnete, ging es in Europa voran. 

Mit dem Drei-Stufen-Plan des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner wurde das Projekt einer gemeinsamen Währung 1969 allmählich konkreter. Bis die Währungsunion Wirklichkeit wurde, dauerte es jedoch immer noch 30 Jahre. Drei Jahrzehnte mit einschneidenden Veränderungen wie dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks. 

Intensive Debatten gab es in jener Zeit über die Frage, ob eine Währungsunion eine politische Union voraussetzt. Sowohl die ökonomische Theorie als auch historische Erfahrungen legten nämlich nahe, dass eine Währungsunion ohne weitgehende politische Union kaum dauerhaft funktionieren kann. 

Warum eigentlich?

3.3 Theorie von Währungsunionen

Damit eine gemeinsame Währung überall ungefähr die gleiche Kaufkraft haben kann und die verschiedenen Regionen nicht überfordert, braucht es einen gewissen Ausgleich der Leistungsunterschiede im Währungsraum. 

Das geschieht entweder über den freien Verkehr von Arbeitskräften, Kapital, Waren und Dienstleistungen innerhalb des gesamten Währungsraums. Flexible Preise und Löhne zählen ebenfalls zu den Mechanismen, die für einen Ausgleich der Unterschiede sorgen können.

Oder es geschieht über Transfersysteme: 

  • Steuern und staatliche Leistungen,
  • Ausgleichszahlungen wie einen Länderfinanzausgleich, 
  • und durch Sozialversicherungssysteme.

In diesem Sinn ist jeder Flächenstaat mit einer nationalen Währung ökonomisch eine „Währungsunion“. Dabei werden in der Praxis meist die vier Grundfreiheiten mit einem Transfersystem kombiniert. 

In einer Währungsunion souveräner Staaten fehlt diese große Ausgleichsmechanik. Der Einzelstaat kann auch nicht mehr einfach seine Währung nominal abwerten, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Zudem gefährdet es den Währungsverbund, wenn er seine Staatsschulden beliebig erhöhen würde. Das hat uns die Staatsschuldenkrise vor Augen geführt. 

Damit eine Währungsunion souveräner Staaten dauerhaft funktionieren kann, braucht es daher alternative Ausgleichsmechanismen. Zudem müssen die Mitglieder zumindest teilweise zum Souveränitätsverzicht bereit sein. Etwa, indem sie Rechte abtreten oder sich an gemeinsame Regeln halten. 

Den Fachleuten in Wissenschaft und Politik war klar, dass eine Währungsunion ohne politische Union nur mit großer Disziplin und Konsensbereitschaft dauerhaft Erfolg haben kann. 

Warum haben sich die Regierungen und Parlamente der Teilnehmerstaaten dennoch dafür entschieden? Weil die Währungsunion in ihrer Zielsetzung eben nicht nur ein wirtschaftspolitisches, sondern auch ein friedenspolitisches Projekt war. 

3.4 Die Währungsunion und Europa seit 1990

Über die Herausforderungen einer Währungsunion ohne politische Einheit herrschte jedenfalls kaum Zweifel.

Bei der konkreten Gestaltung der Währungsunion ging es daher um die Frage: Wie kann eine Währungsunion unter den gegebenen Umständen erfolgreich sein? 

Auf der einen Seite gab es jene, die meinten, zunächst müsse ein europäischer Bundesstaat mit Transfersystemen entstehen. Dann erst könne eine Währungsunion folgen. 

Das Modell wurde unter dem Namen „Krönungstheorie“ verhandelt: Eine Währungsunion „krönt“ eine vorausgehende politische Union. 

Andere wollten hingegen die Währungsunion vor der politischen Union einrichten. Der aus den Stabilitätsanforderungen entstehende politische Druck würde dann die ausstehenden weiteren Integrationsschritte zur politischen Union erzwingen. 

Dieses Konzept wurde als „Lokomotivtheorie“ bezeichnet: Eine Währungsunion schleppt den Zug in die politische Integration.

Im 1989 veröffentlichten Delors-Bericht wurde schließlich empfohlen, die Wirtschafts- und Währungsunion vor einer politischen Union einzuführen. 

Auf dieser Grundlage wurde 1992 der Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Er legte einen Zeitplan und den Rechtsrahmen für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion fest. Dazu zählten die Konvergenzkriterien und die Grundbestimmungen zur EZB und zum Europäischen System der Zentralbanken. So wurde etwa das Ziel der Preisstabilität festgeschrieben. 

Die Währungsunion wurde mithin genau dann verwirklicht, als die globale Nachkriegsordnung aus zwei Blöcken zusammenbrach. 

Das Ende der Sowjetunion änderte die geostrategische Lage für Europa grundlegend. Nun galt es, gemeinsam eine neue Ordnung in Europa zu gestalten. Und die Staaten und Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks bei der Transformation in marktwirtschaftliche Demokratien zu begleiten. 

Seit Anfang der 1990er Jahre sind also zwei europapolitische Projekte parallel verfolgt worden: einerseits die wirtschaftliche Integration Westeuropas als politisches Friedenswerk; und andererseits die politische Integration Mittel- und Osteuropas. 

Aus heutiger Sicht hat das ältere Projekt der westeuropäischen Integration politisch an Bedeutung verloren. Die Vision von „Vereinigten Staaten von Europa“ als einheitlichem Rechtsraum, für das die Währungsunion eingerichtet worden ist, bestimmt jedenfalls nicht mehr die europapolitische Agenda. 

Entgegen der „Lokomotiv-Theorie“ hat der Euro die Herstellung der politischen Union nicht so stark beschleunigt, wie einst erwartet. Vielmehr haben die historischen Ereignisse die europäische Integration in eine andere Richtung gelenkt. 

Umso bemerkenswerter ist es vor diesem Hintergrund, wie stabil der Euro und die Währungsunion trotz Krisen bisher insgesamt gewesen sind. Das ist alles andere als selbstverständlich. Und das sollten wir uns immer wieder klarmachen, insbesondere mit Blick auf die – wie immer – ungewissen Herausforderungen der Zukunft.

4 Institutionelle Reformen im Euroraum

Meine Damen und Herren,

ob das Dach eines Hauses ordentlich gedeckt und sturmsicher ist, weiß man erst dann mit Gewissheit, wenn ein Sturm kommt. 

Auch die Währungsunion begann, Stichwort „Great Moderation“, mit einer Schönwetterphase. Doch dann kam ein Sturm in Form einer Finanz- und Staatsschuldenkrise, der die Schwachstellen der institutionellen Konstruktion schonungslos offenlegte. 

Wenn Ihnen ein Sturm das Dach abdeckt, werden Sie es schnellstmöglich und provisorisch reparieren, damit es nicht reinregnet. Aber dann werden Sie prüfen, wie sich ein ähnlicher Schaden in Zukunft verhindern lässt.

Auch im Euroraum ergriff die Politik zunächst behelfsmäßige Stabilisierungsmaßnahmen, bevor institutionelle Reformen in Angriff genommen wurden. Mit Blick auf Letztere haben vor allem der dauerhafte Euro-Rettungsschirm ESM und die Bankenunion die Währungsunion krisenfester gemacht.

Zur Bankenunion gehört zum einen die gemeinsame europäische Bankenaufsicht. Zum anderen ein Einheitlicher Abwicklungsmechanismus. Er regelt, wie mit Banken in Schieflage umzugehen ist. Es gibt auch einen Abwicklungsfonds, der im Falle einer Bankenschieflage dafür sorgen soll, dass die Steuerzahlenden verschont bleiben. 

Auf anderen Reform-Baustellen ist der Fortschritt ein wenig ins Stocken geraten. Ein wichtiges Projekt, bei dem wir zum Beispiel schon deutlich weiter sein sollten, ist die Kapitalmarktunion. Sie ist in meinen Augen ein ganz wesentlicher Erfolgsbaustein einer stabilen Währungsunion. Und deshalb setze ich mich auch mit Nachdruck dafür ein. 

Es ergibt schlicht und einfach keinen Sinn, dass 20 Länder eine gemeinsame Währung haben, aber immer noch fragmentierte Kapitalmärkte. 

Dabei ist Kapitalmarktintegration auch ein Beitrag zur Finanzstabilität. Denn sie erlaubt es, Finanzgeschäfte breiter zu streuen – Unternehmen können sich über Ländergrenzen hinweg finanzieren, Anleger haben viel mehr Möglichkeiten zu investieren. Und sie stärkt durch den Ausbau von Eigenkapitalfinanzierung private Risikoteilung. Das erhöht auch die Resilienz in Krisenzeiten.

Ob es sinnvoll ist, dass 20 Länder eine gemeinsame Währung haben, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik? Darüber gibt es unterschiedliche Ansichten.

Fakt ist freilich, dass die Mitgliedstaaten nicht bereit sind, ihre fiskalische Souveränität weiter einzuschränken oder gar aufzugeben.

Umso wichtiger ist es daher für die Stabilität der Gemeinschaftswährung, dass die Staatsfinanzen solide sind. Und die gemeinsamen Fiskalregeln ernst genommen, eingehalten und durchgesetzt werden.

Der Streit um diese Regeln ist bekanntermaßen ein Dauerbrenner in der europäischen Politik. Eine bindende Wirkung von Regeln setzt jedoch voraus, dass sie möglichst eindeutig sind. Ausnahmetatbestände und Entscheidungsspielräume sind hingegen problematisch.

Den Reformvorschlag der Europäischen Kommission sehen wir in der Bundesbank daher als vertane Chance zur Regelstärkung. Denn die Kommission möchte allgemeingültige mittelfristige Haushaltsziele durch länderspezifische, verhandelbare Vorgaben ersetzen.

Einfacher, transparenter und effektiver würden die Regeln dadurch wohl nicht.

Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung haben die Mitgliedstaaten heute eine deutlich höhere Verschuldung als zu Beginn der Währungsunion. Und was hierbei gar nicht mitgerechnet wird, ist die gemeinschaftliche Schuldenaufnahme durch die EU, die 2020 vereinbart wurde.

Um die Folgen der Pandemie abzumildern und Europa klimafreundlicher, digitaler und widerstandsfähiger zu machen, wurde damals „Next Generation EU“ beschlossen: ein mehrjähriges Transfer- und Kreditprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, das durch gemeinschaftliche Anleihen finanziert wird. 

Damit wurde vom Grundsatz abgewichen, dass sich die EU nicht verschulden darf. Es war eine Ausnahme, die in der damaligen Notsituation nachvollziehbar war. Aber es sollte beim gegenwärtigen Integrationsstand eine einmalige Ausnahme bleiben.

Positiv festzuhalten ist, dass sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Pandemie solidarisch verhalten haben. Europa ist immer dann stark, wenn alle an einem Strang ziehen und das Gemeinsame im Vordergrund steht.

Eine enge Zusammenarbeit wird auch in Zukunft wichtig sein. Dann wird es uns gelingen, auch kommende Herausforderungen zu meistern.

5 Herausforderungen für Europa und den Euro

Corona war eine unerwartete Herausforderung, auch wenn Fachleute eine Pandemie schon lange vorhergesagt hatten.

Den Ukraine-Krieg hielten die meisten von uns vor 2022 ebenfalls für ein unwahrscheinliches Szenario.

Wir lernen daraus, dass Europa über die notwendige Widerstandsfähigkeit verfügen muss, um selbst in unerwarteten Situationen handlungsfähig zu sein. 

Aber es gibt auch Entwicklungen, mit denen wir rechnen können: Herausforderungen, auf die wir uns vorbereiten können. Ich denke hier insbesondere an die häufig als Megatrends bezeichneten drei D’s: Dekarbonisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel. 

Ich denke aber auch an handelspolitische Konflikte, die uns vermutlich weiter beschäftigen werden. Gerade für eine Exportnation wie Deutschland wäre ein Abbau der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung, also eine Deglobalisierung, sozusagen als viertes „D“, verheerend. Und nicht zuletzt denke ich an die Frage, wie es in der Europapolitik weitergeht. 

Im letzten Viertel meines Vortrags möchte ich daher skizzieren, welche Auswirkungen diese Herausforderungen haben: auf Europa, auf die Währungsunion, auf das Eurosystem.

5.1 Dekarbonisierung

Die erste Herausforderung ist die Dekarbonisierung, also die Transformation zur Klimaneutralität. Um den Pariser Klimazielen gerecht zu werden, will die EU den Kontinent bis 2050 klimaneutral machen. Das geht uns alle an, und zu recht machen sich viele von uns Gedanken, wie wir den eigenen CO2-Ausstoß reduzieren können, zum Beispiel, wenn wir es drinnen warm haben wollen, oder wenn wir von A nach B kommen wollen. Die Wirtschaft ist genauso betroffen.

Der notwendige Wandel erfordert erhebliche finanzielle Mittel, die im Wesentlichen privat aufgebracht werden müssen. Die Kapitalmarktunion wäre dabei sehr hilfreich. Durch einen integrierten grünen Kapitalmarkt könnten mehr Mittel mobilisiert und sinnvoll investiert werden.

Auch das Eurosystem unterstützt den grünen Wandel, indem wir für mehr Transparenz sorgen und Klimarisiken beachten. 

Mit Blick auf das vorrangige Ziel des Eurosystems, für Preisstabilität zu sorgen, dürfen klimabezogene finanzielle Risiken nicht vernachlässigt werden. Insofern halte ich es für sinnvoll, die Unternehmensanleihen, die wir derzeit aus geldpolitischen Gründen halten, auch anhand ihrer Klimarisiken auszurichten. 

Es wäre jedoch falsch, dauerhaft in grüne Wertpapiere zu investieren, wenn es geldpolitisch nicht geboten ist. Auch können wir die Zinsen nicht an dem Ziel ausrichten, klimafreundliche Investitionen zu unterstützen. Günstige Finanzierungsbedingungen für gesellschaftlich erwünschte Investitionen zu schaffen, ist die Aufgabe von anderen staatlichen Institutionen, insbesondere Förderbanken. 

Der wertvollste Beitrag der Geldpolitik zur Klimapolitik ist Preisstabilität. Denn Inflation beeinträchtigt die Lenkungswirkung von Preisen im Allgemeinen und damit auch von CO2-Preisen im Speziellen. Diese sind aber nach wie vor das effizienteste Instrument der Klimapolitik.

5.2 Digitalisierung

Der zweite Megatrend, der das europäische Wirtschafts- und Finanzsystem massiv beeinflussen wird, ist die Digitalisierung.

Hier am KIT muss ich niemandem erklären, dass diese als Chance und nicht als Bedrohung zu begreifen ist.

Digitalisierung verspricht Produktivitätsschübe und damit Wohlstandszuwächse. Um das Potenzial der Digitalisierung ausschöpfen zu können, bedarf es jedoch attraktiver Rahmenbedingungen. Dazu gehören eine gut ausgebaute digitale Infrastruktur und eine innovationsfreundliche Regulierung.

Die EU ist hier in mehrfacher Hinsicht gefordert. Sie kann die europäische Digitalwirtschaft zum Nutzen der Menschen voranbringen: etwa indem klare Regeln für die Nutzung von Daten und KI-Systemen gesetzt oder der digitale Binnenmarkt vollendet wird. Und über die Wettbewerbspolitik muss sie dafür Sorge tragen, dass auch in Zukunft Start-Ups neben den Technologie-Giganten bestehen können. 

Die Digitalisierung macht sich auch beim Bezahlen bemerkbar. Ob mit dem Smartphone, der Smartwatch oder kontaktlos mit der Karte – digitales Bezahlen wird immer beliebter. 

Etwa zwei Drittel der Ausgaben in Deutschland werden heute bereits bargeldlos getätigt, bei den Jüngeren sind es schon ca. drei Viertel. Dabei ist der Anteil nicht zuletzt während der Coronavirus-Pandemie rasant gewachsen: Vor sechs Jahren wurde, gemessen am Umsatz des Einzelhandels, noch knapp die Hälfte mit Scheinen und Münzen bezahlt.[1]

Wenn die Welt immer digitaler wird und das Bezahlen genauso, dann ist es nur schlüssig, dass auch die Zentralbank für ihr Geld ein digitales Angebot entwickelt. Mit dem digitalen Euro bekämen die Menschen die Möglichkeit, auch elektronisch mit staatlichem Geld zu bezahlen. Und zwar in ganz Europa!

Ich halte seine Einführung daher für einen logischen Schritt – als Ergänzung zum Bargeld. Bis wir die ersten digitalen Euros in unsere virtuellen Geldbörsen – unsere Wallets – laden können, werden allerdings noch einige Jahre vergehen. 

5.3 Demografischer Wandel

Der dritte Trend, der Europa auf Jahrzehnte prägen wird, ist der demografische Wandel.

Aufgrund von steigender Lebenserwartung und niedrigen Geburtenraten wird die Bevölkerung immer älter. Dadurch steigt der Altenquotient, der die Bevölkerung über 65 Jahre ins Verhältnis zu den 15- bis 64-Jährigen setzt: Auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen heute knapp 35 Ältere. In der Mitte dieses Jahrhunderts werden es über 50 sein.

Das wird auch gravierende wirtschaftliche Folgen haben: Die Aufwendungen für Gesundheit und Pflege werden steigen – und auch der zugehörige Arbeitskräftebedarf.

Zugleich stehen dem Arbeitsmarkt immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. 

Gerade in Deutschland wächst der Fachkräftemangel schon seit Jahren. Und das obwohl die Zahl der Personen, die auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, zuletzt noch um fast 200.000 pro Jahr gestiegen ist. Von 2025 an wird sie jedoch um 80.000 jährlich sinken, was das Problem verschärfen wird.

Der Fachkräftemangel wird daher immer mehr zur Wachstumsbremse.

Ansatzpunkte, diesem Trend zumindest ein Stück weit entgegenzutreten, sind eine höhere Frauenerwerbstätigkeit, eine längere Lebensarbeitszeit und Zuwanderung. 

Während die ersten beiden Faktoren eher von nationalen Rahmenbedingungen beeinflusst werden, hat die EU auf die Arbeitskräftemigration mehr Einfluss. Hier gilt es, Europa für Fachkräfte attraktiver zu machen.

Auf die Geldpolitik des Eurosystems kann die Arbeitskräfteknappheit übrigens ebenfalls Einfluss haben. Denn sie verschafft der Arbeitnehmerseite in Lohnverhandlungen eine größere Verhandlungsmacht.

Sollte sich daraus zusätzlicher Inflationsdruck ergeben, müsste die Geldpolitik darauf reagieren.

5.4 Internationaler Handel

Auswirkungen auf die Geldpolitik hätte es auch, wenn eine Verlagerung von Produktion nach Europa den Arbeitskräftemangel verstärken würde. Denn das würde letztlich preistreibend wirken. 

Einen Megatrend Deglobalisierung gibt es derzeit zwar zum Glück noch nicht. Aber in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen rücken die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zunehmend in den Hintergrund. Und aus einem stetigen Wachstum des Welthandels in Relation zur Wirtschaftsleistung ist seit der Finanzkrise eine Art Seitwärtsbewegung geworden. 

Zu den Gründen dieser Entwicklung zählen nicht zuletzt protektionistische Bestrebungen. Sie zeigen sich in einer deutlichen Zunahme von Handelsbeschränkungen. Ziel solcher Maßnahmen ist es oft, heimische Sektoren abzuschotten. Letztlich schaden Handelskonflikte aber allen Beteiligten. 

Das heißt freilich nicht, dass die Politik Globalisierungsverlierer im Regen stehen lassen sollte. Anstatt den Strukturwandel selbst zu behindern, sollte die Politik aber besser die mit ihm verbundenen sozialen Härten abfedern.

In der Handelspolitik hat die EU alleinige Zuständigkeit und damit eine große Verantwortung. Sie sollte sich auch in Zukunft für möglichst freien Handel einsetzen. 

Die pandemiebedingten Lieferkettenstörungen und der russische Angriffskrieg haben derweil die Risiken einseitiger Abhängigkeiten vor Augen geführt. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die EU solche Abhängigkeiten reduzieren möchte. 

Ökonomisch wäre es ratsam, den freien Handel zu fördern und zu stärken, um dadurch Lieferketten zu diversifizieren. In jedem Fall wäre es ein großer Fehler, auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zu verzichten. 

6 Fazit

Meine Damen und Herren,

Europa steht vor großen Herausforderungen. Gemeinsam können wir diese Aufgaben meistern. Davon bin ich fest überzeugt.

Europa kann heute nicht mehr am Reißbrett geplant werden. Die Erwartung, dass der Währungsunion die politische Union geradezu zwangsläufig folgen muss, hat heute niemand mehr.

Stattdessen hat sich ein Konzept der variablen Geometrie etabliert: Die Mitgliedstaaten nehmen je nach Interesse an Gemeinschaftsprojekten teil – oder eben nicht. Dazu zählt de facto inzwischen auch die Währungsunion. 

Dabei hat es die Europäische Union in den vergangenen 25 Jahren nicht immer leicht gehabt. In vielen Mitgliedsländern sind populistische Bewegungen erfolgreich, zu deren Markenkern die Kritik an der europäischen Integration gehört. 

Die Euro-Staatsschuldenkrise war dafür ein wichtiger Faktor. Dazu kam ab 2016 die Brexit-Kampagne im Vereinigten Königreich.

Der Brexit und seine Folgen haben allerdings auch bewirkt, dass die Europa- und Eurokritiker regelmäßig leiser werden, je näher sie an die politische Verantwortung kommen. 

Hier zeigt sich unter anderem, welches Gewicht der Euro und die Währungsunion in Europa und bei der europäischen Zusammenarbeit haben – ob man sie nun befürwortet oder ablehnt. 

Die kontinuierliche Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit steht weiter auf der politischen Tagesordnung – zu Recht. Das Ziel einer ever closer union – einer immer engeren Union der Völker Europas, das in Artikel 1 des EU-Vertrags genannt wird, gilt weiterhin. 

Das nutzt uns in Europa in politisch-strategischer Hinsicht, denken Sie an die großen geopolitischen Konflikte in der Welt. Und es nutzt auch dem Pionierprojekt Europäische Währungsunion. 

Die Währungsunion hat bisher insgesamt gut funktioniert, aber die Politik muss sie für ihren langfristigen Erfolg weiter unterstützen. Wir müssen unsere Institutionen so aufstellen, dass sie flexibel und handlungsfähig sind. 

Hans-Dietrich Genscher hat gesagt: Unsere Zukunft ist Europa – eine andere haben wir nicht.

Als überzeugter Europäer und glühender Verfechter der europäischen Integration möchte ich hinzufügen, bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die mit der europäischen Integration verbunden sind: Das vereinte Europa ist eine historische Errungenschaft, die wir sehr schätzen sollten. Wir müssen sie laufend weiterentwickeln und an die neuen Erfordernisse anpassen. 

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Zuerkennung der Heinrich-Hertz-Gastprofessur. Sie ist eine große Ehre für mich.
 

Fußnote:

  1. BBk-Zahlungsverhaltensstudie 2021, Tabellen 5.2.2 und A. 5.2.1, Zahlungsverhalten in Deutschland 2021 (bundesbank.de)