Stabiles Geld in den Köpfen verankern Rede bei der Konferenz zum zehnjährigen Jubiläum des Aktionskreises Stabiles Geld

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor gut zehn Jahren, am 14. Juni 2013, gründeten Wirtschaftsprofessorinnen und -professoren, die ehemals bei der Deutschen Bundesbank beschäftigt waren, den Aktionskreis Stabiles Geld. Damals lag die Inflationsrate im Euroraum und in Deutschland bei etwa anderthalb Prozent, gemessen im Jahresdurchschnitt und gemäß Harmonisiertem Verbraucherpreisindex. Auf den ersten Blick könnte man meinen, damit hätte die Geldpolitik annähernd zufrieden sein können. Das damalige Politikziel einer Preissteigerungsrate von „unter, aber nahe 2 %“ wurde zwar nicht perfekt eingehalten. Doch die Zielabweichung war nicht gravierend – kein Vergleich zur aktuell viel zu hohen Inflation!

Dennoch hatte es die Geldpolitik im Euroraum seinerzeit alles andere als leicht: Trotz Mario Draghis Whatever it takes im Juli 2012 stand das folgende Jahr noch immer im Zeichen der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Auch wenn an den Finanzmärkten ein Stück weit Vertrauen zurückkehrte, blieb die Geldpolitik im Krisenmodus – mit ihren Sondermaßnahmen und einem Zinssatz der Einlagefazilität von null Komma null Prozent.

Vor diesem Hintergrund des andauernden Niedrigzinsumfelds und der noch nicht ausgestandenen Staatsschuldenkrise im Euroraum wurde also der Aktionskreis Stabiles Geld ins Leben gerufen. Im Gründungsdokument steht geschrieben: „Ziel der Vereinigung ist es, die geldpolitische Stabilitätskultur in der breiten Öffentlichkeit zu fördern. Die Mitglieder sind davon überzeugt, dass eine lebendige Stabilitätskultur in einer Währungsunion nicht nur entsprechendes Handeln von Politik und Notenbanken voraussetzt, sondern auch in der Bevölkerung gut verstanden und fest verankert sein muss.

Es freut mich, dass Sie diesen Ansatz für sich gewählt haben. Ich halte ihn im Kern auch heute in einem ganz anderen Umfeld für unverändert richtig. Wir – die Bundesbank und das Eurosystem – arbeiten ebenfalls daran, unsere Botschaften den Bürgerinnen und Bürgern besser zu vermitteln. Deshalb lautet mein Redetitel: Stabiles Geld in den Köpfen verankern. Dazu braucht es geeignete Kommunikation. Das klingt selbstverständlich, ist aber oft gar nicht so einfach.

2 Kommunikation und Geldpolitik

Wie andere Zentralbanken auch kommunizieren Bundesbank und EZB über vielfältige Kanäle zu geldpolitischen Themen. Dazu gehören verschiedenste Berichte, Pressekonferenzen und -mitteilungen, Reden wie meine heutige, Interviews, Beiträge im Internet und in den sozialen Medien, die öffentliche Bildungsarbeit der Bundesbank.

Es ist hilfreich, dass Zentralbankkommunikation nicht allein auf dem Feld ist. Denn je mehr Menschen mit geldpolitischen Themen erreicht werden, desto besser. Medien können dabei unterstützen, auch Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und aus Vereinigungen wie dem Aktionskreis stabiles Geld.

Zum Beispiel ergab eine Umfrage der EZB aus dem Jahr 2021, dass zwar 87 % der Befragten im Euroraum schon von der Europäischen Zentralbank gehört hatten, aber die Mehrheit der Befragten schätzte ihr eigenes Wissen über die Geldpolitik der EZB als relativ gering ein.[1] Und nur 45 % bekundeten Interesse an Informationen über die EZB und ihre Politik.

Eine repräsentative Befragung der Bundesbank im Frühjahr 2023 in Deutschland zeigt: Rund zwei Drittel der Teilnehmenden interessieren sich zumindest etwas für Fragen der Geldpolitik. Mehr als 80 % gaben jeweils an, zumindest eine ungefähre Vorstellung von den Aufgaben der Bundesbank sowie der EZB zu haben. Von den Befragten, die die Bundesbank und EZB dem Namen nach kannten, meinten etwa drei Viertel, zu deren Aufgaben gehöre, sich für Geldwertstabilität einzusetzen. Aber ebenfalls etwa drei Viertel hielten es (fälschlicherweise) für eine unserer Aufgaben, Kredite an den Staat zu vergeben.

2.1 Ergebnisse der Strategieüberprüfung

Wie aber lässt sich Wissen vermitteln, wenn es der Allgemeinheit an Interesse fehlt? Diese Herausforderung hat das Eurosystem erkannt und aufgegriffen. Im Rahmen der Überprüfung der geldpolitischen Strategie in den Jahren 2020 und 2021 wurde auch die Zentralbank-Kommunikation analysiert.[2]

Unter dem Titel „Das Eurosystem hört zu“ gab es im Überprüfungszeitraum eine Reihe von Veranstaltungen, in denen Vertreterinnen und Vertreter der EZB und der nationalen Zentralbanken in Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Organisationen traten. Nach den positiven Erfahrungen entschied der EZB-Rat, den direkten Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern zu einem festen Bestandteil des Austauschs zwischen dem Eurosystem und der Öffentlichkeit zu machen. Bei den Informationsveranstaltungen kommt es sowohl aufs „Zuhören“ als auch aufs „Erklären“ an.

Denn das Feedback der Bürgerinnen und Bürger zeigte ganz deutlich, dass Zentralbanken ihre Rolle verständlicher erklären sollten. Der EZB-Rat beschloss im Rahmen seiner Strategieüberprüfung, die geldpolitische Kommunikation zu modernisieren.[3] Das hat unter anderem zu Anstrengungen geführt, Veröffentlichungen verständlicher und lesefreundlicher zu gestalten: sprachlich einfacher sowie optisch ansprechender.

Die Bundesbank als Teil des Eurosystems engagiert sich bereits seit einigen Jahren dabei, ihre Botschaften einem möglichst breiten Publikum nahezubringen, vor allem auch der jüngeren Generation. Beispielsweise findet im November schon zum fünften Mal unsere Veranstaltung Euro20+ statt. Hier lädt die Bundesbank junge Menschen zu zwei Tagen mit Workshops, Vorträgen, und vielem mehr ein. Da beteilige ich mich auch sehr gerne.

Gerade in einer Zeit, in der zum Beispiel Krypto-Token massive Wertverluste erleiden können, gilt es, insbesondere den Jüngeren die Unterschiede und Vorzüge stabilen Geldes zu vermitteln. Zwar mögen Krypto-Token etwa als mögliche Innovationsquelle für Finanzdienste verlockend sein. Sie bergen aber zugleich erhebliche Risiken, die man sich bewusstmachen muss.

Insgesamt soll die Kommunikation des Eurosystems so zielgruppengerecht wie möglich sein. Das Fachpublikum braucht eine andere Ansprache als „Laien“ in puncto Geldpolitik.

2.2 Verankerung von Inflationserwartungen

Wenn unsere Strategie, unsere Maßnahmen, unsere Entscheidungen und ihre Auswirkungen von vielen Leuten gut verstanden werden, macht dies unsere Geldpolitik effizienter. Lassen Sie mich hierzu kurz ausholen: Indem wir zu unserer Geldpolitik offener und klarer kommunizieren, wird sie verständlicher. Damit senken wir die Hürde, sich mit unseren Themen und Botschaften zu beschäftigen. Das kann die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik fördern und helfen, die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer mit unserem Ziel der Preisstabilität überein zu bringen.

Stabiles Geld in den Köpfen verankern, bedeutet auch, einen Anker zu setzen für die Erwartungen der Menschen über künftige Inflationsraten. So bestand ein Ziel der Strategieüberprüfung darin, den Zielwert für die Inflation klarer zu formulieren, so dass er einen noch besseren Anker für die langfristigen Inflationserwartungen bildet. Der EZB-Rat strebt nun für den Euroraum mittelfristig eine Inflationsrate von genau 2 % an, statt vorher „unter, aber nahe 2 %“. Zugleich wurde bei der Strategieüberprüfung klargestellt, dass das Ziel symmetrisch ist, also positive wie negative Abweichungen von 2 % gleichermaßen unerwünscht sind.[4]

Wie Wirtschaftsakteure die künftige Preisentwicklung einschätzen, beeinflusst ihr Verhalten – beispielsweise Kaufentscheidungen privater Haushalte, Lohnverhandlungen der Tarifpartner oder die Preissetzung von Unternehmen. Wenn die privaten Akteure erwarten, dass die Inflation mittelfristig bei 2 % liegen wird, und wenn sich diese Erwartung in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen niederschlägt, dann ist es für die Zentralbank einfacher, ihr Ziel zu erreichen. Ihre Geldpolitik ist somit effizienter. Das heißt, die gewünschte Wirkung lässt sich mit geringerem Instrumenteneinsatz erzeugen.

Wenn hingegen die Arbeitnehmer und Gewerkschaften mit dauerhaft erhöhten Teuerungsraten rechnen, könnten sie etwa fortgesetzt deutlich überdurchschnittliche Gehaltsforderungen stellen. Oder die Unternehmen könnten ihre Preise in Erwartung neuerlicher Kostensteigerungen weiter anheben.

Bei deutlichen Zielverfehlungen über einen längeren Zeitraum hinweg steigt das Risiko, dass die Wirtschaftsteilnehmer ihre Erwartungen anpassen. So besteht vor dem Hintergrund aktuell anhaltend hoher Inflationsraten die Gefahr, dass sich die Inflationserwartungen von ihrem Anker lösen.

Laut EZB-Umfrage (Consumer Expectations Survey) sind im April die Inflationserwartungen von Konsumenten im Euroraum auf Sicht von zwölf Monaten und drei Jahren deutlich zurückgegangen, nachdem sie im März noch einmal merklich gestiegen waren. Laut Bundesbank-Befragung hat sich zuletzt der rückläufige Trend bei den Inflationserwartungen von Privatpersonen in Deutschland für die nächsten zwölf Monate zwar fortgesetzt. Doch auch hier bleiben die Inflationserwartungen auf erhöhtem Niveau.

Auf den Finanzmärkten zeigt sich das Bild einer hohen Inflationsunsicherheit über die mittlere Frist hinaus. Die Finanzmarktteilnehmer sichern sich dabei gegen Inflationsraten über dem Ziel ab, was sich in historisch hohen Inflationsrisikoprämien zeigt. Die aus Expertenbefragungen (Consensus Economics) hervorgehenden langfristigen Inflationserwartungen für den Euroraum liegen näher am Inflationsziel von 2 %, aber gleichwohl leicht darüber.

Um weiterhin einen sicheren, glaubwürdigen Anker zu bieten, muss die Geldpolitik im Kampf gegen die Inflation überzeugen. Gegenwärtig geht es vor allem darum, mit Taten – sprich Leitzinserhöhungen – zu überzeugen. Denn nur wenn wir durch Taten überzeugen, können wir Zentralbanker auch mit Worten wirken: sowohl auf Inflationserwartungen als auch auf die Erwartungen über die künftige Geldpolitik.

2.3 Orientierung für Erwartungen über den geldpolitischen Kurs

So wird Kommunikation seit geraumer Zeit als ein eigenständiges geldpolitisches Instrument angesehen. Ich spreche von der Forward Guidance. Ihre Einführung im Euroraum ist wie die Gründung des Aktionskreises Stabiles Geld zehn Jahre her. Im Juli 2013 äußerte der EZB-Rat erstmals seine Erwartung, dass die Leitzinssätze für eine längere Zeit auf dem damaligen oder einem niedrigeren Niveau bleiben würden.[5]

Als die Leitzinsen nahe ihrer Untergrenze waren, hat sich die Forward Guidance als ein effektives geldpolitisches Instrument erwiesen. Indem der EZB-Rat bedingte Ankündigungen machte über die Entwicklung der Leitzinsen oder der Anleihekaufprogramme, gab er den Finanzmarktteilnehmern Orientierung für ihre Erwartungen über die künftige geldpolitische Ausrichtung. Diese Form der Erwartungssteuerung erzeugte Abwärtsdruck auf die längerfristigen Zinsen und stimulierte die Wirtschaft. Das war angesichts der zu niedrigen Inflationsrate geldpolitisch erwünscht.

Heute stellt sich die Situation ganz anders dar. Wir haben keine Nullzinsen mehr. Und bei der Pressekonferenz im Mai sagte Christine Lagarde prägnant: „Data dependency is not forward guidance. Der EZB-Rat ist also etwas abgerückt vom Instrument der Forward Guidance. Er betont zurzeit angesichts großer Unsicherheit die Datenabhängigkeit seiner Entscheidungen.

Sehr wohl aber gibt der EZB-Rat Aufschluss über seine geldpolitische Reaktionsfunktion, also darüber, wovon seine künftigen Leitzinsentscheidungen abhängen. Konkret weist er derzeit auf drei Kernelemente hin: erstens die Einschätzung der Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Wirtschafts- und Finanzdaten, zweitens die Entwicklung der zugrundeliegenden Inflation und drittens die Stärke der geldpolitischen Transmission.

Ich gebe offen zu, diese Hinweise zur Erwartungsbildung verstehen höchstwahrscheinlich nur Fachleute. In einem EZB-Working Paper heißt es: Von Bürgerinnen und Bürgern mit so vielen anderen Dingen im Kopf kann man nicht erwarten, dass sie die Nuancen von beispielsweise Forward Guidance oder quantitativer Lockerung – „QE“ – verstehen.[6] In der Tat brauchen sie zwar ein Grundverständnis, aber kein solches Detailwissen. Ich kenne mich in Medizin ja auch nicht so gut aus wie meine Ärztin.

Worauf es vor allem ankommt, ist, in der breiten Öffentlichkeit Vertrauen zu schaffen und zu bewahren: Vertrauen, dass die Geldpolitik im Euroraum ihr Mandat erfüllt, für Preisstabilität zu sorgen. Ich möchte hier nochmals auf das Bild des Ankers zurückgreifen. Denn durch die Unabhängigkeit des Eurosystems ist Preisstabilität auch institutionell verankert.

Mit der Unabhängigkeit von Zentralbanken geht ihre Rechenschaftspflicht einher, damit die Öffentlichkeit nachvollziehen kann, ob die unabhängige Zentralbank ihre Aufgabe erfüllt und ihr Mandat nicht überschreitet. Wenn wie momentan die Geldpolitik Preisstabilität eindeutig verfehlt, sind die Verantwortlichen ganz besonders Rechenschaft schuldig. Der EZB-Rat muss erklären, warum die Inflationsrate im Euroraum nun schon so lange (viel) zu hoch ist, weshalb sie wahrscheinlich noch länger über 2 % bleibt und was wir dagegen tun.

Leider sind geldpolitische Sachverhalte teils recht komplex. Trotzdem darf unsere Kommunikation nicht nur Fachleute erreichen. Wollen wir gezielt einem möglichst großen Teil der Bevölkerung Wissen vermitteln sowie letztlich Vertrauen schaffen und bewahren, müssen wir uns an das Motto halten: So einfach wie möglich, so umfassend und tiefgreifend wie nötig! Das versuche ich auch zu beherzigen, wenn ich nun im zweiten Teil meiner Rede über die aktuelle Geldpolitik spreche.

3 Aktuelle Geldpolitik

Zunächst möchte ich Ihnen die gesamtwirtschaftlichen Prognosen sowohl für den Euroraum als auch für Deutschland vorstellen – vergangene Woche veröffentlicht, sind sie noch ganz frisch.

3.1 Konjunktur- und Preisentwicklung

Die Expertinnen und Experten des Eurosystems rechnen mit einem Wirtschaftswachstum im Euroraum von 0,9 % in diesem Jahr. Das ist nicht viel, aber immerhin kam die Wirtschaft im Winter besser als befürchtet mit der Energiekrise zurecht. In den beiden Folgejahren sind höhere Wachstumsraten von 1,5 % beziehungsweise 1,6 % zu erwarten.

Die Einkommen der privaten Haushalte und mithin ihre Konsumausgaben dürften von kräftigen Lohnsteigerungen bei nachlassenden Inflationsraten profitieren. Dies treibt die Konjunkturentwicklung an. Hingegen dämpft die geldpolitische Straffung seit Dezember 2021 im Euroraum nicht nur den Preisauftrieb, sondern auch das Wirtschaftswachstum. Die Drosselung der Nachfrage ist wichtig, um die hohe Inflation in den Griff zu bekommen.

In den neuen Projektionen wird für den Euroraum in diesem Jahr eine Inflationsrate von 5,4 % veranschlagt. Der Preisanstieg dürfte weiter zurückgehen, bis auf 2,2 % im Durchschnitt 2025. Unser 2 %-Zielwert wird also im Prognosezeitraum nicht erreicht. Dass der Preisauftrieb nicht schneller nachlässt, liegt unter anderem an der verzögerten Wirkung geldpolitischer Maßnahmen. 

Außerdem dauert es, bis sich die Änderung der Energiepreise auf andere Güterpreise überträgt. Das war bei den starken Anstiegen so. Und nun, wo die Energiepreise sich wieder beruhigen, braucht es ebenso seine Zeit, bis sich die zugrundeliegende Preisentwicklung wieder normalisiert. So ist die Gesamtinflationsrate im Euroraum im Mai zwar erfreulicherweise deutlich auf 6,1 % gesunken. Aber die Kernrate, also die Teuerung ohne die stark schwankenden Preise für Energie und Nahrungsmittel, hat ihren Höchststand nur wenig unterschritten.

Für Deutschland stellen sich das Konjunktur- und Inflationsbild in den neuen Projektionen der Bundesbank wie folgt dar: Nachdem die deutsche Wirtschaft im Winterhalbjahr geschrumpft und damit schwach in das Jahr 2023 eingestiegen ist, wird das reale Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt voraussichtlich um 0,3 % sinken. Im nächsten und übernächsten Jahr dürfte die Wirtschaft dann um 1,2 % beziehungsweise 1,3 % wachsen.

Die deutsche Wirtschaft erholt sich demnach nur mühsam von den Krisen der vergangenen drei Jahre. Sie hat vor allem noch mit den Folgen der hohen Inflation zu kämpfen. Immerhin lässt der Preisauftrieb nach. Die deutsche Inflationsrate lag im Mai bei 6,3 % gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex. Sie dürfte von 6,0 % im Durchschnitt 2023 auf 2,7 % im Jahr 2025 fallen.

Die Löhne steigen kräftig, und der Arbeitsmarkt ist robust. Die Kaufkraft der privaten Haushalte und deren Konsumausgaben erholen sich daher nach und nach. Der (reale) Staatskonsum geht 2023 aufgrund auslaufender Ausgaben im Zusammenhang mit der Pandemie stark zurück. Er legt dann aber wieder deutlich zu.

Infolge der strafferen Geldpolitik sind allerdings die Finanzierungskosten gestiegen. Dies dämpft die privaten Investitionen, insbesondere im Wohnungsbau. Für die deutschen Exporteure kommt Gegenwind vom stärkeren Euro und der hohen Lohndynamik. Die Exporte legen dennoch moderat zu, weil die Auslandsnachfrage steigt. 

3.2 Geldpolitischer Kurs vereinbar mit Finanzstabilität

Die Geldpolitik muss dafür sorgen, dass die Inflationsrate zu ihrem mittelfristigen Ziel von 2 % zurückkehrt. Deshalb müssen die Zinsen hoch genug sein, um die Wirtschaft hinreichend zu bremsen und die Inflationserwartungen verankert zu halten. Die Geldpolitik muss tun, was notwendig ist, um Preisstabilität sicherzustellen. Letztlich ist Preisstabilität zugleich auch der beste Beitrag der Geldpolitik zum Wohlstand unserer Gesellschaft. 

In weniger als einem Jahr hat der EZB-Rat die Leitzinsen um ganze vier Prozentpunkte angehoben. Das zeugt von unserer Entschlossenheit, von energischer Inflationsbekämpfung! Der relevante Leitzins – der Zinssatz für die Einlagefazilität – liegt nun bei 3,5 %. Ich denke, damit ist noch kein ausreichend hohes Niveau erreicht. Wie weit die Zinsen tatsächlich steigen müssen, wird wie erwähnt von den eingehenden Daten abhängen.

Klar ist: Wenn wir oben am höchsten Punkt angekommen sind, dann bleiben die Leitzinsen so lange wie erforderlich auf diesem Level. Um die Inflation zu brechen, braucht es energisches Handeln genauso wie Beharrlichkeit!

Darüber hinaus gehört zur nötigen Normalisierung und Straffung der Geldpolitik, dass die Zentralbanken ihre Bilanzen zurückführen. Das Eurosystem wird nun den Bilanzabbau beschleunigen, was ich sehr begrüße. Ab Juli werden die Reinvestitionen im Rahmen unseres größten Anleihekaufprogramms (des APP) komplett eingestellt, sodass der Anleihebestand im Durchschnitt um monatlich 25 Milliarden Euro sinken wird. Im Rahmen des Pandemieprogramms PEPP ist gemäß aktueller Beschlusslage bislang noch vorgesehen, bis mindestens Ende 2024 vollständig zu reinvestieren.

Zum Schrumpfen der Bilanzsumme des Eurosystems trägt nicht allein der Wertpapierbestand aus den geldpolitischen Kaufprogrammen bei. Die Banken zahlen auch ihre Langfristkredite an uns zurück. Mehr Tempo beim Bilanzabbau ist gut. Dabei mache ich mir keine Sorgen, dass der Markt diesen Abbau nicht verträgt. Selbst wenn es zu etwas mehr Marktvolatilität käme, wäre das kein Beinbruch, denn auch vor der Finanzkrise 2008 gab es deutlich mehr Volatilität als derzeit. Aber natürlich werden wir ein Auge darauf haben, dass der Prozess insgesamt maßvoll angegangen wird.

Der EZB-Rat muss ebenfalls darauf achten, dass die Transmission des Leizinsanstiegs über den Finanzsektor auf die reale Wirtschaftstätigkeit möglichst reibungslos verläuft. Mit den schnellen und starken Zinsanhebungen sind die Refinanzierungskosten der Banken beträchtlich gestiegen. Dadurch haben sich auch Bankkredite verteuert und die Bedingungen der Kreditvergabe verschärft. Das Kreditwachstum hat sich merklich verlangsamt sowohl infolge der schlechteren Konditionen als auch wegen schwächerer Kreditnachfrage von Unternehmen und privaten Haushalten. Das Straffen der Geldpolitik zeigt Wirkung, aber nicht übermäßig.

Trotz der jüngsten Turbulenzen im Finanzsystem, speziell im US-Bankensektor, hat sich die Übertragung der Geldpolitik im Euroraum bislang nicht grundlegend verändert. Das Bankensystem im Euroraum hat sich als widerstandsfähig und solide erwiesen. Daran haben auch die weitreichenden Reformen im Gefolge der Finanzkrise einen großen Anteil. Die jüngsten Bilanzzahlen zeigen eine gute Eigenkapitalbasis sowie gute Liquiditätsausstattung der Banken. Da mache ich mir aktuell keine großen Sorgen. Dennoch stellt das Straffen der Geldpolitik die Banken vor Herausforderungen. Schwachstellen bei Aufsicht und Regulierung können zum Vorschein kommen oder gar zum Problem werden.

Außerdem sind neuere Entwicklungen zu berücksichtigen. So kann etwa das Zusammenspiel von digitalem Banking und sozialen Netzwerken die Geschwindigkeit eines Bankruns – eines massiven Abzugs von Einlagen – erhöhen. Die Zentralbanken und Finanzaufsichtsbehörden beobachten die Situation laufend. Der geldpolitische Werkzeugkasten des Eurosystems ist bestens ausgestattet, um im Notfall hinreichend Liquidität bereitzustellen und eine reibungslose Transmission zu gewährleisten.

3.3 Stabilitätsdenken auf breiter Basis

Meine Damen und Herren, Zentralbanken haben ihren festen Platz in der Wirtschaftsordnung. Sie geben ihr Halt, indem sie für Preisstabilität sorgen. Zugleich können sie diese Ankerfunktion besser oder einfacher erfüllen, wenn andere Institutionen „mitziehen“ – allen voran die Wirtschaftspolitik. Dabei sollte ein Stabilitätsdenken auf breiter Basis viele Bereiche umfassen. Ich werde zunächst kurz auf den Kernbereich Finanzpolitik eingehen und als zweites beispielhaft den Arbeitsmarkt ansprechen.

Markus Brunnermeier äußerte sich kürzlich wie folgt: „Weiterhin denken viele Politiker, die Notenbank könne die Inflation allein senken. Doch so einfach ist es nicht. Es braucht die Mitarbeit der Regierung. Der Kampf zwischen den Zentralbanken und Regierungen wird sich verschärfen.[7] Ich hoffe natürlich, diese Vorhersage bewahrheitet sich nicht!

Wichtig ist im gegenwärtigen Umfeld, dass die Ausrichtung der Finanzpolitik die Aufgabe der Geldpolitik nicht erschwert. So sollten Deutschland und die anderen Euroländer die breit angelegten Krisenhilfen zeitnah auslaufen lassen. Dabei läge es nahe, die Energiepreisbremsen nicht über Ende dieses Jahres hinaus zu verlängern.

Budgetdefizite zu begrenzen, ist auch sinnvoll, um in einer neuerlichen Krisensituation handlungsfähig zu bleiben. Letztlich kommt es darauf an, dass die Finanzpolitik eine verlässliche Aussicht auf solide Staatsfinanzen bietet. Diesbezüglich erscheinen die jüngsten Vorschläge der Europäischen Kommission zur Reform der europäischen Fiskalregeln nicht hilfreich, da die bindende Wirkung des Regelwerks wohl schwächer würde.[8]

Es würden nicht mehr die gleichen Regeln für alle Mitgliedstaaten gelten. Die Europäische Kommission würde vielmehr mehrjährige länderspezifische Pläne zum Schuldenabbau bilateral aushandeln. Die Vorgaben dürften noch komplexer und intransparenter werden und mithin die Ergebnisse noch schwerer überprüfbar sein. Ermessensspielräume dürften wachsen. Nun ist bei diesen Reformvorschlägen das letzte Wort noch nicht gesprochen. Gäbe es im endgültigen neuen Regelwerk aber tatsächlich weniger Druck, hohe Schuldenstände abzubauen, wäre das eine schwere Bürde für die Geldpolitik.

Ein verändertes Umfeld für die Geldpolitik könnte sich auch durch dauerhaft enge Arbeitsmärkte ergeben. Denn dann könnte größere Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer zu kräftigem Lohnwachstum und mithin anhaltendem Inflationsdruck führen. Schon jetzt zeigt sich in immer mehr Branchen hierzulande sowie im ganzen Euroraum ein Mangel an Arbeitskräften. Aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung ist mit einem rückläufigen Arbeitsangebot zu rechnen. So werden in Deutschland wohl schon ab 2026 mehr Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, als die Nettozuwanderung ausgleichen kann.

Die Wirtschaftspolitik ist gefordert, das Angebot an Arbeitskraft über verschiedene Wege zu fördern: stärkere Anreize für Frauen in Teilzeitbeschäftigung, länger zu arbeiten, bessere Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Pflegebedürftige, mehr Zuwanderung von Fachkräften, vereinfachte Anerkennung von ausländischen Studienabschlüssen und Berufsqualifikationen, höhere Beteiligung älterer Menschen am Arbeitsmarkt, beispielsweise durch Anhebung des gesetzlichen Rentenalters.

Kurzum, stabilitätsorientierte Geldpolitik fällt leichter, wenn andere Akteure helfen, dafür günstige Bedingungen zu schaffen. Ein drittes Beispiel wäre die Wettbewerbspolitik. Sie trägt dazu bei, die Preissetzungsmacht von Unternehmen zu begrenzen.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ein breit verankertes Stabilitätsdenken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist höchst erstrebenswert. Inflation darf sich nicht verfestigen – weder in den Daten noch in den Köpfen! Es lohnt sich, Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Allerdings bin ich Realist: Selbst mit bester Kommunikation werden nicht alle Menschen zu passionierten Fans von Geldpolitik.

Meist sind geldpolitische Themen nur für einen überschaubaren Teil der Gesellschaft spannend und unterhaltsam (und vielleicht sogar cool). Ich vermute, hier im Saal ist dieser Teil deutlich überrepräsentiert. Das freut mich! Und ich hoffe, es gelingt uns allen mehr und mehr, Interesse und Neugier in breiteren Teilen der Gesellschaft zu wecken, stabiles Geld in den Köpfen zu verankern.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit!

Fußnoten:

  1. Gardt, M., S. Angino, S. Mee und G. Glöckler, Kommunikation der EZB mit der breiten Öffentlichkeit, Wirtschaftsbericht der EZB, Ausgabe 8/2021, S. 132-154.
  2. Europäische Zentralbank, Clear, consistent and engaging: ECB monetary policy communication in a changing world, Occasional Paper Series, No 274 / September 2021; Europäische Zentralbank, Überblick über die geldpolitische Strategie der EZB, Wirtschaftsbericht der EZB, Ausgabe 5/2021, S. 89-106.
  3. Gardt, M., S. Angino, S. Mee und G. Glöckler, a.a.O.
  4. Deutsche Bundesbank, Die geldpolitische Strategie des Eurosystems, Monatsbericht September 2021, S. 17-63.
  5. Deutsche Bundesbank, „Forward Guidance“ – Orientierung über die zukünftige Ausrichtung der Geldpolitik, Monatsbericht August 2013, S. 31-33.
  6. Blinder, A.S., M. Ehrmann, J. de Haan und D. Jansen, Central Bank communication with the general public: promise or false hope?, ECB Working Paper Series No 2694 / August 2022, S. 37/38.
  7. Markus Brunnermeier: Kampf zwischen Regierungen und Notenbanken (nzz.ch), 2. Mai 2023.
  8. Deutsche Bundesbank, Zur Reform der europäischen Fiskalregeln, Monatsbericht Mai 2023, S. 71-77.